Interview mit SSBL-Direktor, Pius Bernet

SSBL-Direktor, Pius Bernet

SSBL-Direktor, Pius Bernet

Am 20. August 2020 hat die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern SSBL ihre Gründer- sowie andere Fachvereinigungen zu einem runden Tisch im Hinblick auf ihre strategische Weiterentwicklung eingeladen. Das bfzs hat mit Daniel Rickenbacher und Thomas Z’Rotz teilgenommen und sich aktiv eingebracht.

Thomas Z’Rotz hat die Gelegenheit genutzt, Pius Bernet (PB), Geschäftsführer der SSBL, einige Fragen um den sehr umfangreichen Jahresbericht 2019 zu stellen. Das Interview fand am 17. September bei einem Mittagessen im Restaurant pro nobis der SSBL im ehemaligen Kloster Rathausen statt.

Rückblick auf den Runden Tisch

Pius Bernet war freudig überrascht über die Offenheit und Bereitschaft, sich gemeinsam mit der Zukunft auseinanderzusetzen. Er stellt fest, dass im Moment in vielen Institutionen ein Generationenwechsel auf der Führungsetage stattfindet. Die meisten Leitungspersonen im Bereich der körperlichen und kognitiven Einschränkungen sind weniger als zwei Jahre im Amt. Es ist eine jüngere Generation, die meisten sogar Quereinsteiger, und das gibt eine ganz andere Wahrnehmung der anderen Institutionen untereinander, unbelastet von früheren Problemen. Das gibt eine neue Offenheit.

Fragen zum SSBL-Jahresbericht

Bfzs: Seite 5: Ich frage mich, ob die Mortalität von Menschen mit Behinderungen gleich hoch ist, wie in der sonstigen Bevölkerung. Lässt man Menschen mit Behinderungen früher sterben?

PB: Generell darf man festhalten, dass sich die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderungen der generellen Lebenserwartung etwas angleicht, soweit es medizinisch überhaupt möglich ist.
Im Einzelfall spielen viele Faktoren eine Rolle, u.a. auch Patientenverfügungen. Die Frage bleibt: Wer darf bei stark kognitiv eingeschränkten Menschen eine Patientenverfügung ausfüllen?

Ich habe einen konkreten Fall eines Klienten in Erinnerung. Um seinen schlechten gesundheitlichen Zustand zu stabilisieren, musste er dreimal in ein künstliches Koma versetzt werden. Leider wurde sein Zustand bei jedem Erwachen noch schlechter. Die Angehörigen mussten zur Erkenntnis kommen, dass dieser Mensch uns im Tiefsten ein Zeichen gibt, dass er nicht mehr leben will.

Die Schnittstelle zwischen SSBL und Akutspital bzw. Psychiatrie ist sehr wichtig. Wir müssen besorgt sein, dass die Spitäler die besonderen Bedürfnisse unserer Patienten kennen und befähigt sind, auf unsere Klienten/-innen einzugehen. Im Jahr gibt es im Durchschnitt etwa 15 Spitaleintritte. Jeder Übertritt wird gut vorbereitet. Es geht i.d.R. bei jedem Ein- und Austritt eine Fachperson von uns mit. Im Spital selber schauen wir, dass wir eine Ansprechperson bekommen. Dieser Prozess der Übertritte konnte in den letzten Jahren verbessert werden und die Zusammenarbeit mit den Spitälern funktioniert recht gut. Ich beobachte vom Spital eine hohe Professionalität.

Bfzs: Seite 8: Mit Erstaunen habe ich festgestellt, dass die SSBL immer noch 11 Standorte hat.

PB: Wir haben den klaren Auftrag von der DISG, unsere Leistungen im ganzen Kanton anzubieten, d.h. dezentral zu bleiben. Auch unsere Bewohnerinnen und Bewohner kommen ins Alter und haben erhöhten Pflegebedarf. Es gibt eine steigende Zahl von Klientinnen und Klienten mit hoher Selbst- und Fremdgefährdung und anspruchsvollem Verhalten, welche eine viel engere Betreuung und spezielle Infrastrukturen benötigen. Wir hatten vor 10 Jahren zu wenig Wohnplätze für pflegebedürftige und verhaltensintensive Klienten-/innen.

Innerhalb weniger Jahre musste mein Vorgänger die infrastrukturellen Voraussetzungen dafür schaffen. Ein Projekt in Sursee im Hofstetter Feld inmitten eines Quartieres wurde wegen Einsprachen so blockiert, dass der Investor und die SSBL schlussendlich aufgeben mussten. Es ist leider eine gesellschaftliche Tatsache, dass nicht alle Leute, insbesondere Wohneigentümer, in ihrer näheren Umgebung Menschen mit Behinderungen haben wollen. So hat die SSBL mehr der Not gehorchend auf dem eigenen Land in Rathausen drei Neubauten realisiert, welche anfangs 2017 eröffnet wurden.

Für Klient*innen, welche nicht mehr mobil resp. bettlägerig sind, ist die Fragestellung «Einkaufen zu gehen» oder Kontakt mit fremden Menschen zu haben weniger wichtig. Viel Abwechslung in der Wohngruppe, Aufenthalte in ruhigen, sicheren Aussenräumen und schöner Natur sind wichtiger.

Anders verlief es im Contenti. Mit der Baugenossenschaft hatten sie einen Bauträger, der sich im Vorstand klar für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ausgesprochen hat. Es braucht einen langen Atem. Auch Bruno Ruegge, der ehemalige Geschäftsführer von Contenti, brauchte über drei Jahre, um im Himmelreich in der Stadt Luzern die Wohngruppen in der Überbauung realisieren zu können.

Bfzs: Es gibt noch einen gesellschaftlichen Aspekt. Wenn Menschen mit schweren Behinderungen in Rathausen, wo sich Füchse und Hasen gute Nacht sagen, «versorgt» werden, dann sind sie für die Bevölkerung nicht mehr sichtbar. Oft höre ich: «Weshalb soll ich eine Rampe bauen, zu uns kommen sowieso keine Behinderten!». So wird es schwierig, sich für eine hindernisfreie Umwelt einzusetzen.

PB: Unser Auftrag ist wohl auch Inklusion, nur müssen wir dies aufgrund der Klienten/-innen mit ihren besonderen Bedürfnissen anders umsetzten. Wir nennen dies Inklusion vor Ort. Wir stellen Lebensraum für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung und versuchen dabei, mit attraktiven Angeboten für sie und für die Öffentlichkeit Begegnungen zu ermöglichen. Wer die Fähigkeit hat, sich im sozialen Raum zu bewegen, der ist vielleicht bei uns in der Tagesstätte und geht abends nach Hause oder wohnt bei uns und arbeitet in einer anderen sozialen Institution, wie z.B. bei Novizonte. Das Gros unserer Klienten hat die Fähigkeit nicht, eigenständig am sozialen Leben teilzunehmen. Mit dem eingeleiteten Strategieprozess wollen wir Wege finden, wie auch wir unseren Auftrag und das Leitbild des Kantons i.S. höherer Durchlässigkeit, Wahlfreiheit und bedürfnisgerechten Angeboten noch besser umsetzen können. Dabei gilt es aber auch, administrative Hürden zu vereinfachen.

Bfzs: Seite 9: Wie ist diese Grafik «Kontaktzeit Betreuende zu Bewohnern» zu verstehen. Das Messkriterium ist ein Prozentwert?

PB: 100% entsprechen 8.5 Stunden pro Tag, d.h. einem normalen Arbeitspensum. Eine Mitarbeitende hat für jeden Klienten eine individuelle Leistungsplanung. Dort ist festgehalten, welche Bedürfnisse dieser hat, von der Hygiene, zum Essen, zur Tagesbeschäftigung in der Wohngruppe oder in den Ateliers. Es gibt auch Zeiten, in denen der Klient keine Betreuung braucht, weil er etwas liest oder sich ausruht, oder die Mitarbeitenden sind anderweitig beschäftigt mit verwaltungstechnischen bzw. teamorientierten Arbeiten. Die Kontaktzeit ist also ein Qualitätsmerkmal und besagt, welcher Anteil der Arbeitszeit direkt mit den Betreuenden verbracht wurde. Die Vorgabe ist über 80 % zu sein. Die Kontaktzeit zeigt aber auch, wie intensiv unsere Klienten/-innen betreut werden müssen.

Bfzs: Seite 10: Was sind präventive «Konsilien»? Sind das Medikamente?

PB: Ein präventives Konzil ist eine Besprechung eines interdisziplinären Teams mit Arzt, Therapeuten, Betreuung und allenfalls Angehörigen bzw. dengesetzlichen Vertretern. Es geht darum, bei verhaltensintensiven Klienten/-innen periodisch die Bedürfnisse resp. die Fortschritte zu diskutieren. Es ist die grosse Kunst mit geeigneten Massnahmen die Medikation zu vermindern und auch bei verhaltensauffälligen Menschen ein möglichst normales Leben anzustreben. Mit den präventiven Konsilien konnten wir in den letzten Jahren, nebst den nun optimalen baulichen Voraussetzungen in Rathausen, die Gewaltvorfälle und akute Psychiatrie-Einlieferungen massiv vermindern.

Bfzs: Seite 15: Die Aktivitäten im Fundraising konzentrierten sich primär auf das Projekt Klosterkirche. Nach wie vor wird unter dem Deckmantel «für Menschen mit Behinderungen» Geld für ein Denkmalpflegerisches Projekt gesammelt. Reizwort «ParaDrome».

PB: Ja, im Jahr 2019 haben wir den Schwerpunkt auf die Klosterkirche gesetzt. Die renovierte Kirche wird ab Dezember 2021 unsere grösste, rollstuhlgängige Aula. Sie wird agogisch für Musik- und Gesangsateliers, für andere grossflächige Ateliers, z.B. Theater, Kinaesthetics, als Kinoraum usw. genutzt werden. Aber natürlich auch für liturgische Anlässe mit dem Behindertenseelsorger des Kantons. Die Denkmalpflege zahlte einen grossen Batzen an diese Kirche.

Bfzs: Der Vorwurf, dass unter dem Deckmantel «für Behinderte» Geld gesammelt und in die Renovation einer Kirche gesteckt wird, können Sie also nicht unterschreiben?

PB: Zweimal Nein. Erstens sammelten wir primär bei Stiftungen für den Erhalt des Kulturguts und zweitens werden wir ab 2020 unsere Betriebsrechnung in Absprache mit der Dienststelle aufteilen auf Leistungsauftrag des Kantons und Nebenbetriebe. Der Betrieb des Kirchenraums ist ein Nebenbetrieb, weil es eine Mischnutzung ist. Die Finanzierung erfolgt ohne Beiträge resp. Einrechnung in die Tarife aus dem Gesundheits- und Sozialdepartement.

Bfzs:Positiv aufgefallen und sehr gefreut hat uns die Schaffung eines Erlebnis- und Wissenszimmers. Dieser neue Raum ist Bestandteil der Umsetzung des Konzepts Sexualität aus dem Leistungsauftrag. Darüber würde ich gerne mehr erfahren.

PB: Es gibt ein Wohnzimmer mit einem Computer und agogischen Hilfsmitteln, um sich über Sexualität zu informieren. Dazu gibt es einen separaten Bericht auf Bfzs. Wir haben zwei speziell ausgebildete Sozialpädagogen im Teilzeitpensum, welche auf Voranmeldung mit dem interessierten Klienten/-innen über Sexualität sprechen und aufklären. Nach einem Jahr machen wir eine Evaluation über Nutzung und Wirkung. Wir haben viel Energie in die Aufklärungsarbeit gesteckt und die nötige Infrastruktur i.S. Persönlichkeitsschutz gesteckt. Ich rechne damit, dass es noch ein paar Jahre gehen wird, bis dieses interne Angebot als selbstverständlich wahrgenommen wird, d.h. dass Hemmungen abgebaut und Schwellen überschritten sind sowie Sexualität auch für Menschen mit Behinderungen selbstverständlicher wird.

Bfzs: Gibt es in ihrer Institution Liebespaare?

PB: Ja, wir haben 2 bis 3 Paare. Unsere Grundhaltung ist, es einfach geschehen zu lassen. Es darf und soll sein. Es ist einfach ganz normal und gehört zum Menschsein.

Bfzs, Seite 17: Ebenfalls positiv: Das Pilotprojekt «neue, durchlässige Betreuungs- und Assistenzangebote» unter dem Motto «stationär und ambulant». Da tut sich anscheinend was.

PB: Ja, wir denken laut nach und möchten dies im laufenden Strategieprozess zusammen mit Kanton und den gleichartigen sozialen Institutionen angehen. Es braucht aber Geduld, bis die ersten Erfolge sich einstellen werden.

Bfzs: Seite 20f: Der Spendenbericht zeigt, dass nicht nur für die Klosterkirche gesammelt wird.

PB: Wir sammeln grundsätzlich zweckgebunden, damit der oder die Spendende weiss, für was sie spendet. Dies ist notwendig, um die Diskussion zu vermeiden, ob gewisse Kleinanschaffungen oder Freizeitgestaltung durch den Kanton finanziert werden sollen.

Bfzs: Seite 23: Sie erwähnten Wirkungsmessungen. Was muss man darunter verstehen?

PB: Als soziale Institution ist unser Erfolgskriterium nicht eine finanzielle Leistungszahl, sondern die Wirkung, welche wir entfalten, vorab die Zufriedenheit bei den betreuten Menschen, bei deren Angehörigen und natürlich auch bei unseren Mitarbeitenden. Die Beurteilung der Lebensqualität der Bewohner-/-innen messen wir mit dem System Sensiqol. Erarbeitet hat dieses System Professor René Stadler von der HSLU. Das Resultat ist für jeden Klienten und jede Klientin ein Spinnennetz mit mehreren Achsen.

17 Achsen: Ernährung, Mobilität, Körperpflege, psych. Erleben, ... , Interationen, Verhalten, Alltag, Unterkunft, pers. Eigentum, Schutz

Wirkungsmessung in 17 Dimensionen

Diese Befragung wird alle 2-3 Jahre wiederholt und wir bekommen so Vergleichswerte. Eine Veränderung hat nicht zwingend etwas mit der Qualität der Leistung zu tun, sondern es kann sich auch das Bedürfnis des Klienten verändert haben. Diese Auswertungen werden im Team besprochen und daraus wird auch die individuelle Leistungsplanung angepasst. Im Jahresbericht weisen wir dann eine Mittelwert-Kennzahl über alle Klienten zusammengezählt aus. Es ist uns klar, es ist eine relative Genauigkeit und auch sehr davon abhängig, wer die Befragung macht. Es hilft uns aber in Dialog Punkte aufzugreifen, wo wir Handlungsbedarf haben.

Bfzs: Seite 28: Der Stiftungszweck ist antiquiert und sollte dringend angepasst werden.

PB: Viel wichtiger als der genaue Wortlaut des übergeordneten Stiftungszwecks ist der genaue Leistungsauftrag des Kantons. Und hier sind Dynamik und Fortschritt verankert. Eine allfälliger Nachvollzug im nicht mehr so zeitgerechten Zweckartikel der Statuten liegt in der Verantwortung des Kantons, sind wir doch eine Stiftung, über welche der Kanton alleine verfügen kann. Darum sind wir auch in der Eignerstrategie des Kantons erwähnt. Unter «Eigentümerstrategie SSBL» finden Sie ein Dokument, was der Kanton mit uns will. Heute hält der Kanton 54% vom Kapital. Somit übernehmen wir automatisch sehr viele kantonale Vorgaben, z.B. die Besoldungsordnung. Der Regierungsrat wählt unsere Stiftungsräte, kann unsere Tarife festlegen und hat somit direkt und indirekt Einfluss auf das Eigenkapital. Darum betrachte ich die SSBL als eine «kantonale Dienststelle» im Kleide einer Stiftung. Wir wollen im Auftrag des Kantons eine sehr gute Leistung in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen erbringen.

Bfzs: Und wie steht es mit einer Anpassung des Stiftungsnamens?

PB: Statutenänderungen, auch eine Namensänderung, sind Sache des Kantons. Der aktuelle Name widerspiegelt den Leistungsauftrag. Aus Klienten- und Angehörigenoptik ist der Name schon stigmatisierend. Am Schluss von unserem Strategieprozess kann der Kanton unseren Auftrag ausweiten oder einengen und allenfalls kommen Kanton und Stiftungsrat zum Schluss, den Namen anzupassen.

Bfzs: Seite 29: Die Werte unter Lebensraum haben mir sehr gut gefallen. Auch unter Zusammenarbeit: «Wir nehmen unsere Handlungskompetenz unter Einbezug der Betroffenen wahr.»

PB: Die Erarbeitung des Leitbilds und der Werte waren ein mehrjähriger Prozess und ist dadurch intern breit getragen. Das freut mich sehr, dass dies anerkannt wird.

Bfzs: Seite 30: Schöne Worte: Wir setzen uns dafür ein, dass ihre persönlichen Fähigkeiten erhalten und entwickelt werden. Da nimmt mich sehr wunder, wie sie das konkret angehen.

PB: Das Entwickeln ist immer sehr relativ. Für einen Laien sind kleine Fortschritte oft gar nicht sichtbar. Die Frage ist, sind wir nur ein Hotel oder eine Befähigungsinstitution? Fördere und fordere ich, dass die Klienten/-innen ans Limit kommen, oder lasse ich sie einfach machen und spaziere ein bisschen mit ihnen? Und was macht Freude, wo ist die Wahlfreiheit und wo ist die Inklusion? Darum ist unsere individuelle Leistungsplanung so sehr entscheidend, welche mit den Klienten/-innen, soweit möglich, besprochen wird.

Bfzs: Seite 37 ff: Der Stiftungsrat ist breit aufgestellt. Wie sind diese vernetzt?

PB: Nationalrätin Priska Wismer-Felder ist bei Insieme im politischen Beirat. Kantonsrat Jim Wolanin ist im Beirat der Pro Infirmis Zentralschweiz und auch noch Präsident der GASK – Kommission für Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit. Beat Amrein ist Präsident von insieme Luzern und Thomas Waser hat einen engen Bezug als betroffener Vater zu Cerebral. Somit sind die vier Gründer der SSBL, insieme, Cerebral, pro infirmis und der Kanton, direkt oder indirekt im Stiftungsrat vertreten.

Bfzs: Seite 33: Schmale Auslegung von Partizipation. Es gibt (nur) eine Interessengemeinschaft der Angehörigen und Vertretungen. Ist da nicht mehr Mitbestimmung der Betroffenen möglich? (Liste der Personen auf Seite 47)

PB: Wir haben formal keinen offiziellen Bewohnerrat. Unsere Klienten/-innen haben ein sehr breites Spektrum an besonderen Bedürfnissen. Darum findet die Partizipation in den Wohngruppen und in den Arbeitsgruppen statt. Das Zusammenleben geht nicht ohne Mitbestimmung. Die Tagesbeschäftigungsauswahl ist gross. Es ist nicht einfach, alles unter einen Hut zu bringen. Junge wollen mit Jungen in eine Wohngruppe. Die unterschiedlichen Beschäftigungsangebote sind ebenfalls ein Kriterium für die Wahl eines Wohnhauses. Wir versuchen, möglichst allen gleichwertige Tagesbeschäftigungsangbote an allen Standorten zu bieten.

Bfzs: Wie sehen sie die Entwicklung der SSBL in der nahen Zukunft?
PB: Dank dem gesellschaftlichen Wertewandel i.S. Behinderung und der damit verbundenen frühen Befähigungen haben wir wenige Neueintritte von jungen Klienten/-innen in den Wohngruppen. Ich erachte es als positiv, dass die Nachfrage nach stationären Wohnplätzen trotz Bevölkerungswachstum nicht steigt, d.h. dass betreutes Wohnen und Arbeiten ausserhalb von Institutionen wie die SSBL zunimmt. Wie die Zukunft aussieht, kann ich ihnen nach Abschluss des Strategieprozesses, welcher unter Beizug aller Stakeholder inkl. Kanton ca. Mitte 2022 abgeschlossen ist, sagen. Ich bin zuversichtlich, dass wir bedürfnisgerechte Angebote im ganzen Kanton weiterhin anbieten können.

Bfzs: Herr Pius Bernet, ich danke Ihnen für dieses interessante Gespräch. Das bfzs bleibt dran und wird die Entwicklung der SSBL interessiert mitverfolgen.

Bfzs-Input am runden Tisch der SSBL am 20. August 2020

    B-Politik umfasst den rechtlichen und organisatorischen Rahmen, in dem die Gleichstellung von MmB bereichsübergreifend gefördert und koordiniert wird.

    «Rechtlich-organisatorischer Rahmen»:

    Aus der Sicht der BRK ist es problematisch, dass der Kanton kein Rahmengesetz hat, das die Förderung der Rechte von MmB zum Zweck hat.

    Ein positiver Punkt ist, dass der Kanton Luzern in der DISG eine Verwaltungsstelle geschaffen hat, die die Umsetzung der Rechte von MmB koordiniert.

    Ob diese Stelle auch über die Kompetenzen verfügt, die Umsetzung der Rechte von MmB zu überwachen, muss sich noch zeigen.

    Der Fokus der gesetzlichen und institutionellen Vorkehrungen liegt noch zu sehr auf den Institutionen für MmB.

    Dies steht immer noch im Widerspruch zur Pflicht der BRK zur effektiven Gewährleistung der gleichberechtigten und selbstbestimmten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

    Es gibt wenig Daten und Wissenstransfer zur Wirksamkeit der Massnahmen zur Förderung der Rechte von MmB.

    Ein sehr wichtiger Punkt «Mitsprache und Mitbestimmung»: Der von der BRK geforderte enge und aktive Einbezug von MmB in die kantonale Politik ist nicht gewährleistet.

    Selbstbestimmte Lebensführung

    «Selbstbestimmtes Leben» bedeutet, dass MmB mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie Menschen ohne Behinderung über ihr Leben bestimmen und Entscheidungen treffen.

    Selbstbestimmung ist grundlegend für ein unabhängiges Leben, sollte aber nicht nur als die Fähigkeit, tägliche Aktivitäten selbst durchzuführen, missverstanden werden.

    Selbstbestimmt sein bedeutet nicht notwendigerweise,.. alleine zu leben, sondern darüber bestimmen zu können, welche Aktivitäten wo und mit wem ausgeübt werden.

    Wichtige Stichworte sind: «autonomes Wohnen», «persönliche Mobilität» und «Flexibilisierung und Individualisierung von Unterstützungsangeboten».

    Ziel sollte es sein, dass MmB unabhängig von Art und Schweregrad ihrer Behinderung die Möglichkeit haben, ihre Wohnform frei zu wählen und beispielsweise in selbstständigen, unterstützten bzw. begleiteten Wohnformen zu leben.

    Insbesondere Menschen mit schwerer Behinderung haben diese Wahlfreiheit (noch) nicht. Dies verstösst gegen das Recht auf unabhängige Lebensführung.

    Handlungsbedarf besteht besonders darin, dass der Kanton die in den Institutionen begonnene Auseinandersetzung mit der BRK stärker unterstützt und enger überwacht.

    Für MmB, die ausserhalb von Institutionen leben, besteht eine Notwendigkeit, Unterstützungsdienste verstärkt zu flexibilisieren und zu individualisieren. Zwingend ist zudem eine finanzielle Unterstützung, die am tatsächlichen Bedarf der Menschen ausgerichtet ist, damit diese möglichst ohne Nachteile und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

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