Unsere Stellungnahme zum Projekt

Verein Kloster Rathausen
Projekt Paradrom
Geschäftsstelle
Rathausen
6032 Emmen

6048 Horw, 6. April 2010

Projekt Paradrom und Behindertenpolitik im Kanton Luzern

Sehr geehrter Herr Präsident
Sehr geehrte Frau Vize-Präsidentin
Sehr geehrte Vorstandsmitglieder
Sehr geehrte Damen und Herren des Patronatskomitees

Wir haben Ihr Projekt inkl. Website mit kritischem Interesse zur Kenntnis genommen.

Das Behindertenforum Zentralschweiz BfZs.ch besteht seit 2004. Als Direktbetroffene
mit verschiedenen Behinderungen engagieren wir uns politisch für die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung und leisten Vernetzungsarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren. Wir haben auch bei den IV-Abstimmungen aktiv mitgewirkt.

Damit sind wir auch Ansprechpartner bei Vernehmlassungen, z.B.
- beim Behindertenkonzept Kanton LU
- beim Behindertenleitbild Kanton LU
- beim Projekt Behindertenfahrdienst Kanton LU
- beim Gesetz des gesellschaftlichen Zusammenhalts Kanton LU (ZUFG)
Als Experten in eigener Sache können wir in der Behindertenpolitik Erfahrungen und Einsichten einbringen, die Menschen ohne Behinderung auch bei bestem Willen abgehen.
Niemand weiss besser als Direktbetroffene, was in der Behindertenpolitik immer noch zu tun ist.

Weil wir aus eigener gesellschaftlicher Erfahrung die Auswirkungen des Unterschieds zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik kennen, suchen wir den Kontakt und die Zusammenarbeit mit Verantwortungsträgern, die sich mit behinderungspolitischen Fragen auseinandersetzen.

Das Projekt Paradrom wirft grundsätzliche Fragen auf, die nachhaltige Antworten
auf der Basis von Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik erfordern.

Gestatten Sie uns deshalb, zum Projekt Paradrom Stellung zu nehmen.

1. Nachhaltige Wirkung des Projektes:

Paradrom soll so die Hoffnung - Schranken zwischen Behinderten und Nichtbehinderten abbauen, indem mit "hautnahen" Erlebnissen ein Gefühl des Behindertseins geschaffen werden soll. Es soll Menschen ohne Behinderung ermöglichen, ein ganz klein wenig zu erfahren, wie es ist, wenn man behindert ist. Vielleicht wird der eine oder die andere auch ein klein wenig für die Belange von behinderten Menschen sensibilisiert.

Solche Erfahrungen lösen aber nur ein kurzfristiges "AHA-Erlebnis" aus
(vgl. in bescheidenerem Rahmen: Projekt Blindekuh, Rollstuhlmarathon etc.).
Behinderung kann man nicht konsumieren.

Was heisst es wirklich, mit einer Behinderung zu leben? Was sind die Auswirkungen auf
das Umfeld? Wie wirkt sich fehlender gesellschaftlicher Respekt auf die Behinderten aus?

In wenigen Stunden spielerischen Umgangs mit seinen Sinnen kann ein Mensch die
ganze Tragweite nicht erfassen. Sich nur einen halben Tag in die sehr heterogene Welt behinderter, sehr individueller Menschen zu begeben ist Lichtjahre entfernt vom täglichen Kampf mit den Hindernissen, die eine Behinderung mit sich bringt. Auch z.B. das Projekt "Blindekuh" vermag Hindernisse und Ausgrenzung durch die Umwelt nicht zu simulieren. Das Positive sehen wir einzig darin, dass sehbehinderte Menschen in einer unabhängigen Rolle Besuchern ihre Dienste anbieten, während diese für eine kurze Zeit Abhängigkeit erfahren, d.h. ein Rollenwechsel stattfindet.

Wir machen uns keine Illusionen und erwarten viel eher ein oberflächliches und gesellschaftspolitisch kontraproduktives Eventerlebnis, nach dem bald wieder zur Tagesordnung übergegangen werden wird. Wir bezweifeln ernsthaft und aus Erfahrung, dass Paradrom das Verhalten des "Normalbürgers" gegenüber Menschen mit Behinderung wirklich nachhaltig verändert.
Eher sehen wir die Gefahr, dass die Würde der behinderten Menschen dabei verletzt wird.
Behinderung ist nicht in Kürze zu erfahren! Ist das Projekt hier nicht überfordert?

Behinderung ist vielmehr ein politisches und kein sensorisches Phänomen.
Es entwickelt seine wahre Dimension erst im Zusammenspiel bzw. eben NICHT-Zusammenspiel mit einer immer noch behindertenfeindlichen Gesellschaft.
Heisst Behinderung erfahren nicht, Behinderte in all ihren Formen in der freien Wildbahn des konkreten Alltags als gleichwertige Menschen ernst zu nehmen?


Nachhaltigkeit wird nicht mit einem spektakulären Projekt mit unrealistisch ehrgeizigen Besucherzahlen, sondern nur mit konkreten
behinderungspolitischen Verbesserungen erreicht.
Es sind vor allem gesellschaftliche und politische Diskriminierungen,
die das Leben der Menschen mit Behinderung
viel stärker beeinträchtigen als die Behinderungen selbst!
Das Projekt schadet mehr als es nützt, wenn oberflächliche Sozialromantiker und Gesinnungsethiker mit einem folgenlosen virtuellen Streichelzoo-Spektakel "leicht und heiter Behinderung erfahren" wollen.

Gibt es bei Paradrom Arbeitsplätze für Betroffene? Nur mit solchen kann Paradrom zu einer echten, realen statt virtuellen Begegnungsstätte werden.


Immerhin erhalten beim Projekt "Blinde Kuh" sehbehinderte Menschen eine gute Arbeitsmöglichkeit.

2. Mitwirkung der Betroffenen bei der Ausgestaltung des Projektes:

Wo sind bei der Planung des Projekts behinderte Menschen vertreten, die dafür sorgen, die erwähnten Schwachstellen zu vermeiden? Dass der Behinderten-Beirat und seine Mitglieder auf der Website vergessen worden sind, belegt deren Alibi-Funktion.

Nachhaltig kann das Projekt nur sein,
wenn es für KONKRETE behinderungsPOLITISCHE Verbesserungen sorgt,
die Menschen mit Behinderung DIREKT nützen!
Dafür ist die enge Mitarbeit von
Direktbetroffenen und Selbsthilfeorganisationen nötig.
Ihre Vertretung im Beirat und im Patronatskomitee darf nicht
als Deckmantel der Geldbeschaffungs-PR missbraucht werden.

3. Missverhältnis: Notwendiges Machbares / Musts Nice-to-have`s

Seit über vier Jahren kämpfen wir mit verschiedenen Organisationen der Selbst- und Fachhilfe für funktionierende und bezahlbare Behinderten-Fahrdienste zu ÖV-Tarifen im Kanton Luzern. Mit den vom Kanton in Aussicht gestellten 1,3 Mio. Subventionen an die verschiedenen Tixi-Anbieter rechnet man pro behinderte Person mit lediglich 12 subventionierten Fahrten pro Jahr (Sie lesen richtig: pro Jahr, nicht pro Woche)! Dieser Kantonsbeitrag steht in einem krassen Missverhältnis zu den 7 Mio. an Ihr Projekt, geht es doch bei diesen Fahrdiensten um wichtigste integrative Dienstleistungen für behinderte Menschen, die den ÖV nicht nutzen können.Seit bald 4 Jahren läuft in drei Kantonen das Pilotprojekt "persönliche Assistenz".Damit sollen Behinderte vermehrt eigenverantwortlich ausserstationär leben können, mit einem persönlich an ihre Bedürfnisse angepassten Budget anstelle der heutigen Hilflosenentschädigung. Im Rahmen der 6. IV-Revision soll dieser Dienst definitiv eingeführt werden. Die Kantone werden sich dabei finanziell beteiligen müssen.

Um die Integration konsequent zu fördern und auch um Kosten im ständig wachsenden stationären Bereich zu sparen, muss die persönliche Assistenz bzw. das ausserstationäre Leben aller Behinderungsgruppen in den kantonalen Behindertenkonzepten (zur Zeit in Vernehmlassungen) gleichwertig zur stationären Unterbringung finanziell unterstützt werden. Zur Platznot im stationären Bereich gibt es keine andere Alternative.Im Rahmen der 6. IV-Revision sollen Betroffene und ihre Angehörigen erneut einen Leistungsabbau in Kauf nehmen, z.B. auch im Hilfsmittelbereich: Staatsrollstuhl, Staatshörgerät, Staatsbüstenhalter à la DDR à Pflichtlektüre für alle Paradrom-Beteiligten:
Peter Wehrli: Eine Art Staatsbüstenhalter (Weltwoche No.9 v. 4.3.2010) abrufbar unter www.zslschweiz.ch

Auch zahlreiche Institutionen und Selbsthilfeorganisationen müssen befürchten, ihre Angebote zur Verbesserung der Lebensqualität Behinderter nicht mehr genügend erbringen zu können.

22 Mio. für die Restaurierung der Klosteranlage lassen sich
nicht unter dem Titel "Behinderungs-Erlebniszentrum" rechtfertigen,
solange für elementare Belange der Direktbetroffenen
nach wie vor über Jahre demütigend und unzumutbar gebettelt werden muss.
Behinderung ist keine "Faszination" wie die fragwürdige Diktion lautet,
sondern ein ernstes zu lösendes sozialpolitisches Problem.
Die Gesinnungsethik von Nichtbehinderten wird unter dem Feigenblatt der Begegnungsstätte für ein nicht nachhaltiges Alibi-Projekt und die Restaurierungsfinanzierung missbraucht, Direktbetroffene vermarktet.
Der Zweck heiligt das Mittel eben gerade nicht.
Stattdessen sind verantwortungsethisch nachhaltige
behinderungspolitische Verbesserungen zu realisieren.
Wir fordern Gerechtigkeit statt Wohltätigkeit.
Das behinderungspolitische Unwissen nichtbehinderter "Experten"
über die Prioritäten erachten wir als entwicklungsbedürftig.
Gut gemeint ist nicht gut gemacht.

Wir brauchen weder Event noch Expo-Spektakel.
Wir brauchen nur Respekt und finanzpolitische Solidarität.
Respekt = Anerkennung. Nur so gewinnt die Gesellschaft anstelle der
Unkultur der Macht und des Geldes eine Kultur der Wahrhaftigkeit und Würde.
Gerechtigkeit darf nicht durch Wohltätigkeit verhindert werden.

Die SSBL-Präsidentin in der Ausgabe 2 der Paradrom-News vom Februar 2010:

"Der Stiftungsrat hat entschieden, ein internes SSBL-Paradrom-Projektteam unter der Leitung von Dani Hohler zusammenzustellen, umdie Fragestellungen, die durch die Entwicklung des Paradrom entstehen, zu klären und in die Entwicklungen einzubringen."

In diesem Sinn muss sich das SSBL-Paradrom-Projektteam unseren Fragen und Hinweisen stellen. Die SSBL-Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.